Er sah den Wassertropfen, wie er seine Farbe wechselte, und so teil eines Regenbogens wurde. Er sah ihn und konnte nicht sagen, wie wichtig das war. Was Gewicht war. Was jetzt war. Was war. „Alles hat seine Berechtigung auf der Welt“, hörte er seine Großmutter sagen. Doch warum musste alles einen Grund haben, um zu existieren? Konnte es nicht genauso gut sein, dass nichts seine Berechtigung hat? Dass alles sinnlos und grundlos geschieht? Keinen höheren Sinn hat? Was ist besser? Alles hat einen Sinn, nur wissen wir weder welchen noch wozu er dient, oder nichts hat Bedeutung und ist somit unwichtig? So hat der zweite Fall durchaus seine Verlockungen. Hat nichts einen Zweck, dann ist es egal, was mit uns geschieht, wie wir handeln, was getan und verstanden wird, alles ist gleich. Alles ist nichts. Alles sinnlos. Wir können nichts falsch machen. Doch hat alles einen Sinn, und wir wissen nicht welchen, dann können wir durchaus falsch handeln. Wir könnten entgegen dem uns angetragenen Sinn handeln, und somit das Gleichgewicht des Universums zerstören, ohne uns dessen Bewusst zu sein. All diese Gedanken klangen in ihm nach, ohne ihn glücklicher zu machen. Und die Traurigkeit veranlasste ihn, sich der Tafel zuzuwenden.
Er schrieb: „Was mich glücklich machen würde, wäre Gewissheit“
Doch er wusste, die Welt würde ihm keine Gewissheit geben. Also löschte er die Worte wieder mit der Hand von der unsichtbaren Tafel, die er vor sich aufgestellt hatte. Er setzte sich in den Sand und genoss die Gischt, die sich langsam zu Tröpfchen auf seiner Haut sammelte. Von unten starrte er auf das leere Stück Luft, auf dem er Gründe notierte, um weiterleben zu wollen. Warum und seit wann er das tat, konnte er nicht sagen. Doch seit Längerem war die Tafel leer. Seit er sich erinnern konnte saß er hier draußen. Früher war er wegen des Regenbogens hiergesessen, doch das stand schon lang nichtmehr auf der Tafel. Sie hatte aus einem Grund ihr Gewicht verloren, an den er sich nicht mehr erinnern konnte.
Er schrieb: „Was mich glücklich machen würde, wäre Gewicht“
Wenn es etwas gäbe, das wichtiger wäre als er, könnte er dafür leben. Doch Gewicht ist subjektiv. Ein Glas Wasser ist nicht besonders schwer. Doch dasselbe Glas eine Stunde von sich wegzuhalten, ist schwer. Die Masse des Glases hat sich nicht verändert, doch es ist schwerer geworden. Also löschte er den letzten Satz von der unsichtbaren Tafel und überlegte weiter. Das Meer hatte einen beruhigenden Klang. Es störte schon fast. Wegen des Regenbogens war er nicht hier. Dennoch war er hier. Warum? Er sah auf die leere Tafel. Er spürte in sich hinein. Glücklich war er auch nicht. Die Wassertropfen auf seinem Gesicht hatten kein Gewicht, und er wusste nicht, warum. Es gab keinen Grund, hier zu sein.
Er schrieb: „Was mich glücklich machen würde, wäre, woanders zu sein“
Zufrieden sah er an die Tafel. Das war ein Ergebnis, das sich sehen lassen konnte. Ein seltsam vertrautes Gefühl breitete sich in ihm aus. Das war Hoffnung. Es gab keinen Grund hier zu sein, also würde er einfach aufstehen und gehen. So könnte er vielleicht glücklich werden. Er stand auf und wandte sich ab. Er ging drei Schritte. Dann konnte er nicht mehr weiter. Gitterstäbe versperrten ihm den Weg. Sie waren in schmutzigem Grün lackiert und die Farbe blätterte ab. In diese Richtung konnte er also nicht gehen. Er drehte um und ging in die andere. Doch nach wenigen Schritten stieß er an eine feuchte Wand mit einem kleinen Fenster, das auch Gitterstäbe hatte. Durch dieses dröhnte laut die Brandung und die Gischt nieselte herab. Im Schein des Neonlichts entstand ein schwacher Regenbogen. Seine Hoffnung zerbrach in einem seltsam vertrauten Schmettern. Er war gefangen in einer winzigen Zelle. Er konnte hier nicht weg, weil er nicht frei war. Hier war er unglücklich. Um glücklich zu werden, musste er woanders hin. Doch das konnte er nicht. Mit tränenden Augen setzte er sich wieder auf den sandigen Boden und löschte energisch die letzten Sätze von der Tafel.
Er schrieb: „Was mich glücklich machen würde, wäre Freiheit“
Stumm saß er da und starrte auf die Tafel. Er konnte nicht sagen, was Gewiss war. Auch nicht, was Gewicht hatte. Er wusste nicht, was seine Bestimmung war. Und ob es einen Sinn hatte, einen ihm angetragenen, dass er hier war, oder ob seine Existenz bedeutungslos war. Trotzdem hatte er immer gewollt, glücklich zu sein. Doch dafür musste er frei sein. Er starrte auf seine Hände. An seinen Knöcheln waren blutige Krusten. Dann nahm er die unsichtbare Tafel und schmetterte sie in tausend Teile. Er brach sie übers Knie, immer und immer wieder, bis sie klein war, so klein, dass sie zu Staub zerbarst und sich unter die Gischt mischte. Wütend atmete er. Seltsam vertraute Energie durchströmte seine Adern. Wieder schaute er auf seine kräftigen Hände. Er würde alles um ihn herum mit ihnen kleinhacken, bis nichts mehr stünde. Keine Gitterstäbe, keine Wände, keine Fenster mehr. Er stellte sich ans Fenster und begann, schreiend auf die Wand einzudreschen. Er spürte keine Schmerzen. Er spürte nur Wut. Schlag für Schlag verwandelte er die Wand unter dem Fenster zu Staub.
Es dauerte nicht lange, bis sie kamen. Sie hielten ihn fest und schrien, dass sie ihm doch bloß helfen wollten. Er wusste, dass das gelogen war. Und so wie er seine Fäuste hob, um auch sie in Staub zu verwandeln, um endlich frei zu sein, spritzten sie ihm etwas in die Schulter und er schlief wieder ein.
Alexander M. Weigl, 09.08.2024