Was kostet die Welt

Ich stifte mein Dasein einem ganz besonderen Menschen. All meine Handlungen und Gedanken spende ich dieser Person. Diese bin ich selbst.

Früh erkannte ich meine Intelligenz. Früh erkannte ich mein Potenzial. Früh erkannte ich Möglichkeit. Die Möglichkeit, mich zu verwirklichen. So beschloss ich standesmäßig früh in meinem Leben, die Welt zu erobern. Die Welt ist mein Ziel. Oben ist mein Ziel. Ich klettere, suche Halt auf Köpfen und Füßen, um immer weiter aufzusteigen. Immer nur hinauf. Immer hinaus. Immer auf die Welt. 

Früh erlangte ich Weisheit. Ich erachte mich als lebensklug. Früh fing ich an, sie auszulegen. Im Vertrauen auf meine Klugheit brannte ich Gesetzmäßigkeiten in meinen Verstand, die mir als letzter Halt dienen sollten. Käme es irgendwann an einen Punkt, an dem ich zweifelte, fingen sie mich auf. Sie sind meine allumfassende Wahrheit.

Was ist die Welt? Schließlich kann etwas nicht erobert werden, ohne zu wissen, was es ist. Am Anfang war meine Welt groß. Unendlich groß. Die Straßen waren unendlich lang, die Menschen unendlich viele, das Auge unendlich scharf. In einer unendlichen Welt musste es Berge geben, die unendlich hoch und breit waren, an deren Füßen es unendlich heiß war und an deren unerklimmbaren Gipfeln es unendlich kalt war. Ozeane, die unendlich weit waren, unendlich blau und so tief, dass keiner je den Grund dieser unendlichen Welt sehen würde. Da ich unendlich lang lebte, hätte ich endlos viel Zeit, all diese Gegenden zu erforschen und zu bewandern. Diese Welt wäre unendlich wertvoll und somit unbezahlbar, doch erschwinglich für mich.

Bis ich erfuhr, dass ich falsch lag. So schrumpfte meine Welt beträchtlich auf die Größe einer Walnussschale, die sich Erde nannte. Ich war mächtig enttäuscht und seltsam fasziniert davon, wenn ich immer nur in eine Richtung ginge, alles zweimal sähe, oder viermal, oder so oft ich wollte. An einem klaren Tag, so meine Logik, würde ich meinen Hinterkopf sehen können. Ganz ohne Spiegel. Also bestieg ich den nächstgelegenen Berg und spähte in die Ferne. Ich zog eine grelle Jacke an, um mich besser erkennen zu können. Doch ich sah nichts. Eine Welt, die so groß ist, dass man seinen Hinterkopf nicht sehen kann, ist wertvoll. Aber nicht unendlich. Diese Welt war bezahlbar, geradezu billig. 

Früh erkannte ich, wie klein die Erde war, doch etwas später erst, wie klein ich selbst war. Und dass diese winzige Welt für einen noch viel winzigeren Menschen fast unendlich groß war. Mit der mehr als ernüchternden Erkenntnis, dass Zeit ebenfalls nicht unendlich war, schrumpfte meine Welt weiter, bis auf einen Teil der Walnussschale, der für mich als Mensch als bereisbar und erlebbar galt. Denn es ist in dieser winzigen, sterblichen Welt für einen noch viel winzigeren und sterblicheren Menschen schlicht unmöglich, alle Berge zu besteigen, alle Täler zu bereisen und alle Menschen zu treffen. 

Alle Früchte zu schmecken, alle Sprachen zu sprechen, alle Düfte zu riechen, alle Temperaturen zu spüren war für mich nicht mehr in Aussicht gestellt. So war die Welt klein und billig, doch zu teuer für mich. 

Früh erkannte ich, wie klein die Erde war, und früh erkannte ich, wie kurz mein Leben war, doch etwas später erst, worauf es dabei ankam. Meine Welt schrumpfte auf den Teil der Walnussschale, in dem vielleicht zwei Prozent aller Menschen lebten. Ich erfuhr Spaß und Ausgelassenheit, und dass ein Leben als erfüllt und eine Welt als erobert galt, wenn es denn auch mit Freude verlebt wurde. Spaß kostet nichts. Diese Welt war kostenlos. Je mehr Menschen ich beeinflussen würde, je mehr Stunden ich lachen würde, je mehr Freunden ich im Gedächtnis bliebe, desto länger würde ich leben. Desto wertvoller würde mein Leben werden. 

Je besser die Menschen mich hielten, je besser sie von mir sprachen, je aufschauender sie mir gedachten, desto mehr von der Welt hätte ich erobert. Doch ich könnte nie alle Menschen erreichen, einige würden mich vielleicht sogar hassen dafür, wie ich war, und sie würden sich nicht von mir überzeugen lassen, für mich zu leben. So konnte ich noch so viel Arbeit aufbringen, noch so viel Aufwand betreiben, noch so viel von dem winzigen Anteil an Wissen erarbeiten, der mir nicht vorenthalten war, wäre diese Welt zwar kostenlos, doch immer noch zu teuer für mich.

Früh erkannte ich, wie klein die Erde war, und früh erkannte ich, wie kurz mein Leben war, und früh erkannte ich, worauf es dabei ankam, doch viel später erst, wer ich bin. Als ich erfuhr, dass die Gedanken anderer über mich wertlos waren und ihre Meinungen zu mir belanglos, schrumpfte meine Welt unendlich klein zusammen und verschwand in mir. Ich versuchte sie zu greifen, doch sie versteckte sich gut. Ich müsste mich schon aufschneiden, um so tief in mich hineinsehen zu können. Würde ich sie zu fassen bekommen, würde ich sie greifen können, dann gehörte sie mir. Klabauternd und kapolternd stürzte ich herum, um die Welt zu kaufen. Doch da half keine Arbeit, da half kein Wissen, da half keine Disziplin.

Früh erkannte ich, wie klein die Erde war, und früh erkannte ich, wie kurz mein Leben war, früh erkannte ich, worauf es dabei ankam, sehr spät erkannte ich, wer ich bin, doch erst heute erfuhr ich, dass ich meine gesamte Welt in mir trage. Diese Welt kostet alles, doch ich kann sie mir leisten.

Denn ich bin die Welt.  

Alexander M. Weigl, 18.01.2024